Im Zusammenhang mit der aktuellen Coronapandemie klagen Blutspendevereinigungen und Kliniken in den letzten Wochen über einen Rückgang an Blutspenden. Die ausreichende Versorgung von Patient_innen mit Blutprodukten sei daher gefährdet.
Aus diesem Grund werden erneut Stimmen lauter, die den pauschalen und damit diskriminierenden Ausschluss von schwulen und bisexuellen Männern von der Blutspende beklagen. Zahlreiche Petitionen wollen das Bundesgesundheitsministerium dazu bewegen, die Blutspenderichtlinien in dieser Hinsicht zu überarbeiten.
Zwar sind schwule und bisexuelle Männer mittlerweile zur Blutspende zugelassen, jedoch nur unter der Voraussetzung sexueller Abstinenz. Laut der aktuell gültigen Richtlinie der Bundesärztekammer dürfen sie Blut spenden, wenn sie zuvor ein Jahr lang keinen Sex mehr mit anderen Männern hatten. Begründet wird die einjährige Rückstellfrist mit dem statistisch höheren HIV-Risiko schwuler und bisexueller Männer. Auch wenn ihre Begründung durchaus nicht von der Hand zu weisen ist, ist diese Regelung nicht nur weltfremd und fachlich in dieser Form nicht gerechtfertigt, sondern schließt die allermeisten schwulen und bisexuellen Männer de facto von der Möglichkeit der Blutspende aus.
Menschen mit einem erhöhten statistischen HIV-Infektionsrisiko bei der Blutspende zurückzustellen, ist medizinisch durchaus sinnvoll, ja sogar notwendig, um die gesundheitliche Sicherheit von Blutprodukten garantieren zu können. Die Anzahl HIV-positiver Menschen innerhalb einer Gruppe und die Struktur der sozialen Netzwerke spielt nämlich eine entscheidende Rolle bei der Feststellung der statistischen HIV-Risiken. Dass die Bundesärztekammer hierbei schwulen und bisexuellen Männern einen Sonderstatus einräumt, ist keineswegs Willkür oder bloße Folge von homophober Diskriminierung. Denn sie sind hierzulande mit Abstand die größte Betroffenengruppe von HIV. Zwei Drittel aller HIV-Infektionen in Deutschland entfallen auf schwule oder bisexuelle Männer. Insofern haben sie gerade in ihren sehr viel kleineren und engeren sexuellen Netzwerken eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit, mit dem HI-Virus in Berührung zu kommen.
Doch die HIV-Prävalenz ist zwar ein gewichtiger, aber eben nur ein Faktor, wenn es um die Einschätzung des Infektionsrisikos geht. Im konkreten Einzelfall kommt es nämlich weniger darauf an, mit wem der Sex stattfindet. Vielmehr ist das individuelle Risikoverhalten entscheidend. Nichtsdestotrotz werden schwule und bisexuelle Männer im alten wie im neuen Regelkatalog unterschiedslos zu einer einheitlichen „Risikogruppe“ zusammengefasst und entsprechend gleichermaßen behandelt. Die einjährige Rückstellfrist gilt für alle schwulen und bisexuellen Männer, ganz gleich, ob sie Safer Sex betreiben oder sogar in einer monogamen Beziehung leben. Die Forderung vieler Verbände und Politiker_innen lautet daher nun, die pauschale Rückstellfrist für schwule und bisexuelle Männer gänzlich abzuschaffen und die Feststellung des Risikos am individuellen Risiko- und Schutzverhalten zu orientieren.
Leider stellt das individuelle Abklären realer Risiken in der Praxis kaum eine praktikable Lösung des Dilemmas zwischen statistischem HIV-Risiko und individuellem Risikoverhalten dar. Nicht alle Menschen sind bereit, detailliert über ihr Sexualleben Auskunft zu geben, selbst dann nicht, wenn diese mit Hilfe eines Fragebogens stattfindet. Die Erfahrungen aus der HIV-Beratung zeigen zudem, dass auch konkrete Fragen nach Risikosituationen und Safer Sex alles andere als verlässlich sind, da Menschen oft nicht in der Lage sind, ihre HIV-Risiken angemessen einzuschätzen. Auch der Verweis auf eine monogame Beziehung ist noch kein Garant für ein risikofreies Sexualleben, da es zunächst einmal eine Definitionsfrage ist, was Monogamie für die_den Einzelne_n denn nun genau bedeutet, und eine monogame Beziehung unter Umständen gar nicht so monogam sein muss, wie von den Partner_innen angenommen oder behauptet.
Insofern scheinen Rückstellfristen aus einer fachlichen Perspektive wohl oder übel unumgänglich zu sein, um die Sicherheit von Blutprodukten gewährleisten zu können. Eine Wartezeit von sage und schreibe einem ganzen Jahr für schwule und bisexuelle Männer begründet sich jedoch keineswegs in wissenschaftlichen Überlegungen, sondern wohl tatsächlich eher in homophoben Ängsten davor, dass schwule und bisexuelle Männer mit ihrem vermeintlich asozialen und verantwortungslosen Sexualverhalten eine Gefahr für die Gesellschaft und für ihre Mitmenschen darstellen. Statt also einen völlig realitätsfremden einjährigen sexuellen Verzicht von diesen zu fordern, sollten die Verantwortlichen im Gesundheitsministerium und der Bundesärztekammer endlich die medizinischen Erkenntnisse und Fortschritte, die im Bereich HIV in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden, zur Kenntnis nehmen. Das hieße vor allem, die Rückstellfristen an das sogenannte diagnostische Fenster anzupassen, das zwischen der Infektion mit HIV und ihrer Diagnose besteht. Aktuelle Testverfahren ermöglichen es, eine HIV-Infektion mittlerweile schon nach spätestens sechs Wochen verlässlich auszuschließen. Die Rückstellfristen müssten daher auch nicht wesentlich länger angesetzt sein.
Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen teilen wir also die häufig zu vernehmende Forderung nach der gänzlichen Abschaffung pauschaler Rückstellfristen für schwule und bisexuelle Männer nicht. Wir teilen demgegenüber die Einschätzung der Deutschen Aidshilfe und sprechen uns entsprechend für eine Verkürzung der Rückstellfristen auf das medizinisch begründbare diagnostische Fenster von sechs Wochen aus.