Es sind diese Regeln, die wir so sehr internalisiert haben, dass wir sie selbst dann befolgen, wenn sie durch eine grundlegend veränderte Situation überflüssig geworden sind. Wie meine Oma, die bei Gewitter immer noch den Fernseher ausgesteckt hat.
Vielleicht war das mal gefährlich, vielleicht hat sie noch Bilder von explodierenden Fernsehröhren im Kopf, vielleicht kommt sie auch aus einer Zeit, als ein Röhrenfernseher eine schmerzhaft teure Anschaffung, ein Luxusgut war. Gerade hab ich in der Badewanne gewhatsappt (Evtl. hab‘ ich Dickpics verschickt) und ein Freund sagt mir, ich soll aufpassen, dass mir das Phon nicht reinfällt. Es ist wasserdicht. Ist mir mal reingefallen, nichts passiert. Vor 3 Jahren war das anders. Wir sind hier in dem Land, in dem Menschen an gottverlassenen Kreuzungen rote Ampeln erwartungsvoll anstarren, bis sie grün werden. In dem uns als Kindern erzählt wurde, wir dürften nach dem Essen nicht schwimmen gehen. In dem die Einhaltung von Regeln als Selbstzweck gibt, als moralische Aufgabe. In dem sich die Eine oder der Andere bestimmt freuen würde, wenn sich aus dem nichts plötzlich ein Auto materialisieren würde, das mich Ampelverachter anrammt – um dann innerlich leise „selbst schuld“ schreien zu können. Weil‘s ja die Schuld ist, um die es geht. Wer die Regeln brav einhält, der lässt sich nichts zu Schulden kommen. Wer Vorschriften übergeht, der macht das auf eigenes Risiko. Der Nikolaus setzt das dann auf die Liste und bestraft im Dezember.
Meine Generation (Ich bin 30) ist die Generation an Homos, die nach der Aids-Krise aufgewachsen sind. Für uns galt immer „SEX OHNE KONDOM = TOD“, und das haben wir internalisiert.
Bis in die 90er war eine HIV-Infektion quasi ein Todesurteil, mit ein wenig Glück konnte man noch ein paar Jahre halbwegs gesund leben und dann noch etwas Zeit rausschlagen durch Therapie. Und die Therapie damals war krass, hat dich gesundheitlich noch extra fertiggemacht. Viele haben freiwillig verzichtet. Es muss eine harte Zeit gewesen sein, meine Berliner Freund*innen, die diese Zeit durchlebt haben, waren zeitweise jedes Wochenende auf Beerdigungen. Wer einen Blick in diese Zeit werfen will, denen lege ich das Tagebuch von Jürgen Baldiga nahe. 1995 kamen die ersten wirklich wirksamen Therapien. Spätestens seit es Truvada gibt, gibt es eine fast nebenwirkungsfreie Therapie. Eine HIV-Infektion bedeutet, Pillen nehmen zu müssen, aber ansonsten normal zu leben. Für Leute, die seitdem in Therapie sind, lässt sich der Virusspiegel soweit senken, dass er sich nicht mehr auf die Gesundheit auswirkt, und Positive unter der Nachweisgrenze sind NICHT MEHR ANSTECKEND. Sex mit ihnen = ungefährlich. Das ist seit 2011 bekannt.
Wie lange hat das gebraucht, bis das bei dir ankam? Bei vielen hat es lange gedauert.
Vielleicht, weil die Leute das nicht wahrhaben wollten. Weil Positive als Unberührbare galten, als Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Und das auch noch selbstverschuldet. Quasi das Gegenteil von Kriegsveteranen, weil sie ihr Schicksal nicht ehrenvoll auf dem Schlachtfeld, sondern auf eine perverse Weise in Darkrooms und in Klappen besiegelt haben. Diese Angst sitzt immer noch tief. Kondome waren nie der Heilsbringer, niemand wollte das Kondom an sich, aber sie waren halt die einzige halbwegs sichere Methode, sich und seine Partner vor einem recht unangenehmen Tod zu schützen. Denke mal kurz nach, ob du Bareback-Sex mit Begriffen wie Verantwortungslosigkeit, Unmoral, Lustbesessenheit etc. assoziierst. (Das habe ich auch.) Diese Vorurteile sitzen tief, weil sie mal begründet waren.
Jetzt kommt die PrEP. Heutzutage ist die Situation grundlegend anders. Menschen funktionieren so, dass sie, anstatt unbegründete Vorurteile zu überdenken, sich lieber neue Rechtfertigungen für diese suchen. Wenn ich mit Leuten über die PrEP rede, wenn ich sage, dass icvh jetzt auch ohne Kondom safen Sex haben kann, stecken mich manche sofort in die Schmuddelecke. Bringen Argumente wie: ‚Es gibt resistente HIV-Stämme‘, ‚Was ist mit Syphilis & Tripper‘, ‚hat die PrEP nicht krasse Nebenwirkungen‘. Das etablierte Denkschema dahinter: Kondom = Verantwortung -> Kein Kondom = Gefahr. Jetzt bin ich ein aufgeklärter Mensch. Ich weiß, dass mich die PrEP vor HIV schützt, und vor nichts anderem. Ich hab‘ mein Leben lang gewissenhaft Kondome benutzt? Ja. Hab‘ ich mir dabei Tripper geholt? Ja. Hab‘ ich mir dabei ne Syph geholt? Auch einmal. Hab‘ ich mich regelmäßig testen lassen? Immer. Früh entdeckte Infektionen (mit allem außer HIV) sind schnell behandelt. Das Fazit soll hier sein: Kondome schützen sicher vor HIV. Kondome schützen vor anderen Infektionen - vor Schmierinfektionen aber auch nur in einem begrenzten Ausmaß. Was euch und vor allem eure Partner schützt, sind regelmäßige Tests. Was uns allen hilft, ist ein offener Umgang mit Infektionen. Das Darüber-reden-können. Das Die-Ficks-der-letzten-Wochen-anrufen, wenn mal ein Test für Chlamydien positiv ist. Redet drüber, schämt euch nicht, und shamet auch andere nicht dafür. Niemandem bringt die Stigmatisierung von Geschlechtskrankheiten etwas.
Natürlich gibt‘s Leute, die die PrEP als Freifahrtsschein zum Rumbumsen sehen. Für mich ist sie aber ein Teil von einem verantwortungsbewussten Umgang mit meiner Sexualität. Ich kann mich dazu entscheiden, safe ohne Kondom zu ficken, wenn ich das möchte, und das ist eine große Befreiung. In Situationen, wo ich mehr Sicherheit will – etwa in Darkrooms – oder wenn mein Partner danach fragt, kann ich jederzeit 'nen Gummi drüberziehen. Die gibt‘s ja trotzdem noch.
Zum Autor: Christoph Hartmann und der Abgrund tauschen seit seiner Geburt 1987 in Katzenbach/Unterfranken anzügliche Blicke. Seit 2007 benutzt er als Neuköllner, Studienabrecher, Drag Queen, Vereinsvorstand, Pornostatist, Arbeitloser, Internetpersönlichkeit und Stewardess Sex als gesellschaftliches Gestaltungsmittel. Sein Twitter-Account @stadtwildnis wird die Archäologen noch lange beschäftigen. Christoph nimmt seit einiger Zeit HIV-Medikamente als Präexpositionsprophylaxe, kurz: PrEP, um einer HIV-Infektion vorzubeugen.
Text: Christoph Hartmann
Bilder: AHH